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"Unser Zug 26.4.1945" |
Die verantwortlichen SS-Leute, die sich nach 1945 vor deutschen Gerichten zu verantworten hatten, fanden in den allermeisten Fällen milde Richter; so auch die SS-Leute, die die KZ-Züge auf der Heidebahn begleiteten und die Verantwortung für das Morden und Sterben bei den Häftlingstransporten trugen.
Ein durchaus typisches Beispiel ist der Fall des SS-Oberscharführers Kleemann, Lagerführer des Lagers Woffleben (Harz), das am 4.4.1945 evakuiert wurde.
Lassen wir zuerst einen französischen Häftling, einen Insassen dieses Zuges, ausführlich zu Wort kommen: "Am 4. April in der Frühe begann der Appell mit der üblichen Zeremonie. Die 1600 stellten sich langsam in 5er-Reihen auf, und die Blockältesten und Stubendienste schlugen mit Knüppeln drein, um die Häftlinge beim Verlassen der Baracken anzutreiben.
Aber diesmal wurden die Reihen nicht gezählt. Das Lagertor öffnete sich nicht, und die Häftlinge vertraten sich wartend die Füße, denn der Lagerälteste war zum SS-Lagerführer Klumann (Kleemann, d.V.) beordert worden. Allgemeine Überraschung: Der Lagerälteste kam zurück und gab Befehl, in die Blocks zurückzukehren. Was war los? Sehr schnell sprach es sich herum, dass man das Lager evakuieren wolle. Schuhe und andere Sachen aus dem Magazin, an die man sonst kaum herankam, wurden verteilt, und gegen 10.00 Uhr wurde der Befehl zum Abmarsch erteilt; Richtung Bahnhof.
Bei der Ankunft auf dem Bahnhof wusste man noch nicht, wie viele Wagen für das Kommando bestimmt waren. Es wurden jeweils 100 Häftlinge in einen Wagen gepfercht, nachdem der erste Wagen für die SS und der zweite Wagen für Reichsdeutsche und zehn ängstliche italienische Kriegsgefangene reserviert worden waren. Als man merkte, dass für alle genug Platz da war, verringerte man die menschliche Fracht der Wagen, und die letzten waren glücklich nur noch mit 30 Mann im Wagen.
Ein Teil des Zuges war schon vom Lager Harzungen belegt worden, und zwar nicht unter SS-Bewachung, sondern nur durch Luftwaffensoldaten.
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Endlich setzt sich der Zug in Bewegung. In Ellrich wurde noch für 3 Tage Verpflegung zugeladen, dann ging es weiter zum Bestimmungsort, der Gerüchten zufolge Lüneburg sein sollte. So fuhren wir zwischen den Amerikanern, die nach Osten drängten, und den Russen, die nach Westen marschierten, über Osterode, Hildesheim, Hannover, Hamburg nach Brunsbüttel. Immer, wenn angehalten wurde, befahl Oscha (SS-Oberscharführer, d.V.) Klumann: "Italiener raus!" Dann wurden in jedem Wagen die Toten an die Tür gelegt, die Italiener mußten sie holen und gewöhnlich am Rande eines Waldes verscharren.
Wie bei jedem Transport, so wurde auch hier die Verpflegung schnell heruntergeschlungen, doch hatte der Wofflebener Transport einen unerwarteten Zuschuß. Jedesmal, wenn Oscha Klumann im voraus wusste, wo der Zug längere Zeit halten musste, schlug er auf den umliegenden Bauernhöfen Alarm und ließ Kaffee, Kartoffeln und Rüben heranschaffen. Dann stellte er sich vor den letzten Wagen seines Zuges auf, wo der erste Wagen des Harzunger Zuges anfing, und schrie mit zufriedener Stimme, um die Bauern davon abzuhalten, auch den anderen Häftlingen etwas zu geben: "Meine Häftlinge fressen!" und mit Verachtung fügte er hinzu: "Die anderen können verrecken!" Die anderen, die von Harzungen, waren nicht "seine", es waren die der Luftwaffe.
Es war eine große Erleichterung, wenn man beim Halten die Türen aufmachte, was sich nur die vorstellen können, die in den Wagen, umgeben vom Gestank der Toten und der Exkremente, eingeschlossen waren. Bei einem Halt hörte man, bevor die Türen geöffnet wurden, furchtbare Schreie in einem Wagen. Klumann öffnete; man sah, dass ein Häftling einem anderen mit Messerstichen zugesetzt hatte; aber es war unmöglich, den Schuldigen zu finden.
So ließ dann Klumann fünf Häftlinge, die gleich vorn an der Tür standen, rausholen und befahl ihnen: "Kniet nieder!" Und Klumann, der väterliche Klumann, der "seine" Häftlinge fressen ließ, zog seinen Revolver und legte alle fünf durch Genickschuß um. Jeder von ihnen kannte das Los, das seiner harrte. Sie nahmen es hin ohne ein Wort, ohne sich zu rühren.
Schließlich, nach einem langen Aufenthalt in Brunsbüttelkoog, den Klumann dazu benutzte, um seine Familie, die in der Nähe wohnte, aufzusuchen, fuhr der Zug plötzlich wieder zurück nach Hamburg bis zu einem Bahnhof, der Bergen-Belsen angeschlossen war.
Nach einem mühsamen Marsch erreichten die Kolonnen von Woffleben und Harzungen das Lager Bergen-Belsen. Die Reichsdeutschen wurden von den Kolonnen abgesondert, die anderen kamen hinter Stacheldraht. An diesem Tag - es war der 10. April 1945 - lagen etwa 6000 Leichen vor den Baracken. Vier Tage später, als die ersten Engländer Bergen-Belsen erreichten, fanden sie dort 10000 Tote." ¤
Am 28.4.1951 verhandelt das Landgericht Itzehoe gegen den Schlachtergesellen und SS-Oberscharführer Kleemann, geb. am 26.09.1915, nach Ansicht des Exhäftlings A. "eine der brutalsten Figuren der SS". Das Oberlandesgericht fasst die Anklagepunkte, soweit sie den Transport betreffen, wie folgt zusammen: "
Beim Transport sei er Transportführer gewesen und habe es als solcher pflichtwidrig unterlassen, den Häftlingen ausreichend Gelegenheit zu geben, die Wagen zu verlassen, um ihre Notdurft zu verrichten. Er habe den Häftlingen, die teilweise gezwungen gewesen seien, ihre Essgeschirre zur Verrichtung ihrer Notdurft zu benutzen, keine Gelegenheit gegeben, diese vor dem Verpflegungsempfang zu reinigen. Er habe weiter eine Reinigung der Wagen nur oberflächlich veranlasst und zum Teil in einer Weise, dass die Häftlinge den Kot mit den Händen aus den Wagen schaffen mussten. Weiter habe der Angeklagte am 7. April 1945 während des Transports in Brunsbüttelkoog einen ukrainischen Häftling durch Genickschuss mit der Pistole getötet und am 8. April 1945 in Handeloh mindestens 4 weitere Häftlinge in der gleichen Weise getötet.
Soweit ein Konzentrationshäftling durch Fußtritte in den Leib getötet worden sei, habe der Angeklagte sich damit zugleich einer vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge und in den übrigen 5 Tötungsfällen zugleich des Mordes schuldig gemacht, weil er diese Menschen aus niedrigen Beweggründen vorsätzlich getötet habe - Verbrechen nach Art. 2 1c, 2, 3, 4b des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 226,73 StGB". ¤
Das Landgericht Itzehoe eröffnet das Hauptverfahren.
Die Einlassungen des Angeklagten Kleemann zu diesen Anklagepunkten werden dann wie folgt wiedergegeben: "Er selbst hat bestritten, dass er für alle Zustände in Woffleben oder auf dem Transport allgemein verantwortlich gewesen sei.
Er sei weder Lagerführer gewesen noch auch Transportführer. Er trage nur insoweit eine Verantwortung, als während seiner Dienstzeit im Lager oder während seiner Anwesenheit auf dem Transport den Häftlingen seines Lagers etwas geschehen sei. Insoweit aber sei nichts irgendwie Strafbares vorgekommen. Es seien im Lager Woffleben keine Häftlinge geschlagen oder sonst misshandelt worden und insbesondere nicht mit seinem Wissen und Willen. Er selbst habe in Woffleben niemanden geschlagen oder mit Fußtritten misshandelt, auch nicht die Häftlinge A. und St. oder andere Häftlinge, von denen einer sogar daran gestorben sein solle. Die Zustände auf dem Transport seien übertrieben und zum Teil unrichtig dargestellt und nicht zu ändern gewesen. Er, der Angeklagte, habe getan, was er konnte, um die Verhältnisse erträglich zu gestalten. Er habe niemand getötet, und es sei auch in seiner Gegenwart und mit seinem Wissen niemand erschossen oder sonst getötet worden. Er sei auch sonst für diese Vorfälle nicht irgendwie verantwortlich. In Handeloh sei
er überhaupt nicht beim Zug gewesen."
Nach der Wiedergabe der Einlassungen des Angeklagten folgt in den Gerichtsprotokollen eine Bewertung der beiden Hauptzeugen, St. und A.
1. Der Zeuge St. ist "ein Phantast und geschickter Schwindler, dem nichts geglaubt werden kann, was nicht auch sonst sicher belegt ist".
2, "Bedenken gegen die Richtigkeit der Aussagen des Zeugen A." sind angebracht, weil nicht nur der Angeklagte selbst, sondern auch die beiden Lagerkapos W. und N. seiner Darstellung widersprechen.
Wie viele andere Kapos sind auch W. und N. deutsche Kriminelle, willige Helfer der SS, denen nicht daran gelegen sein konnte, alle Vorgänge im Lager restlos aufzuklären. Als aber auch sie den Angeklagten in einigen Punkten belasten, nimmt das Gericht dies zum Anlass, auf ihre Vorstrafen einzugehen und darauf hinzuweisen, dass der Aussage von solchen Kriminellen kein Glauben geschenkt werden könne.
Das Gericht verlässt sich lieber auf seine eigenen Eindrücke: Nach der Vernehmung des Angeklagten, der evangelischer Christ und verheiratet ist, kann der Richter einfach nicht glauben, dass dieser Kleemann die ihm zur Last gelegten Verbrechen begangen haben soll.
Dabei sieht sich das Gericht in voller Übereinstimmung mit dem Gutachten des Kieler Professors Dr. H., der nach einem eingehenden Gespräch mit dem Angeklagten feststellt, "gewisse Taten seien ihm in solchem Grade persönlichkeitsfremd, dass derartige Beschuldigungen unglaubwürdig seien."
Das Gericht kommt abschließend zu folgender Bewertung: "Die Hauptverhandlung hat einen hinreichenden Beweis dafür, dass der Angeklagte diese Straftaten begangen hat, nicht erbracht."
Im Namen des Volkes ergeht schließlich folgendes Urteil: "Der Angeklagte wird auf Kosten der Landeskasse freigesprochen."
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