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Das Ende in Soltau


Das Kriegsgeschehen am Ende der Bahn in Soltau, Eisenbahnknotenpunkt.


Russentransporte

Bereits bevor über die Soltauer Gleise Transporte jüdischer Häftlinge und Verschiebungen von KZ-Häftlingen aus Neuengamme laufen, kennen die Soltauer Bürger das Elend von Transporten mit sowjetischen Kriegsgefangenen.
Die ausgemergelten Gestalten, die bei der Durchfahrt aus den Luken und aus halbgeöffneten Waggontüren blicken, bleiben unvergesslich: junge und ältere Männer mit fetzenumwickelten Füßen und mit zerissener Kleidung. Mit der Bahn bringt man sie auf die Truppenübungsplätze. Dort, in den Wehrmachtslagern zwischen Munster und Fallingbostel, sterben viele Tausende an Hunger und Typhus.

Fremde Reisende

Gefangene in Wietzendorf. Heimliche Aufnahme eines Soltauer Jugendlichen
Gefangene in Wietzendorf. Heimliche Aufnahme eines Soltauer Jugendlichen

Fremde Reisende gänzlich anderer Erscheinung sind auf dem Reichsbahnhof der Kreisstadt ab 1942 auszumachen. Normale Reisezüge sind es, die da unter Bewachung Halt machen.
Wenn der Halt länger dauert, weil Lok und Tender mit Wasser und Kohlen versorgt werden, dann kann es sein, dass sich die Reisenden auf dem letzten Bahnsteig die Beine vertreten und an den Abteilfenstern nach einem Gesicht suchen. Einigen Fahrgästen gestatten die Wachen sogar, sich auf einem Kocher etwas aufzuwärmen und dabei einen Plausch zu halten.
Die Männer und Frauen haben Gepäck mit, tragen lange Mäntel und sehen wohlgenährt aus. Sie sprechen Deutsch oder verstehen es zumindest, denn sie kommen aus Auffanglagern in den Niederlanden, wo sie als deutsche oder niederländische Juden gefangengehalten wurden. Über das nahe der Grenze liegende Konzentrationslager Westerbork hat man sie mit der Bahn nach Deutschland verschleppt.

Schicksalsweiche

Bahnsteig KZ-Westerbork

Soltau - zu damaliger Zeit Eisenbahnknotenpunkt - hat Schienen in alle Himmelsrichtungen. Hamburgs dritte Strecke in den Süden, die Heidebahn, kreuzt hier die große Ost-West-Achse Bremen - Berlin. Nach Lüneburg, Neuenkirchen und Celle läuft der Verkehr auf den regionalen Schienen der Osthannoverschen Eisenbahn mit ihrem eigenen Kleinbahnhof.
Für die Judentransporte aus Westerbork ist Soltau Schicksalsweiche, Halt an der Abzweigung zum "Aufenthaltslager" Bergen-Belsen, einem der Konzentrationslager auf Reichsgebiet. Denn über ein Verbindungsgleis können die Züge vom Reichsbahnhof auf die Schienen der "Osthannoverschen" gelangen, wenn sie vom Soltauer Kleinbahnhof nach Bergen weitergeleitet werden sollen.
Die meisten der Transporte, die aus Holland kommen, aber gehen ihren Weg weiter in den Osten - zum Vernichtungslager Sobibor und nach Auschwitz.

Bahnsteig KZ-Westerbork
Mit dem Transport vom 2. September 1944 wurde Anne Frank von Westerbork in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Anne und ihre Schwester Margot starben im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Sonderzüge

Viele Verwundetentransporte und Soldatentransporte sind in der Kriegszeit unterwegs. Am Reichsbahnhof haben die Frauen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt in der Suppenküche und die Helferinnen in der Lazarettbaracke mehr als genug zu tun. Das Jungvolk und die Hitlerjungen, die hier ihren Dienst ableisten, helfen den Schwestern und den Uniformierten gern.
Ein besonders begehrter Auftrag ist beispielsweise, Flüchtlinge oder andere Fremde ins Stadtquartier zu geleiten. Wer seinen Dienst gut und richtig macht, dem winkt auch eine Beförderung. Auf diese Weise bleibt für die Hitlerjungen das Kommen und Gehen auf Soltaus Bahnhof dauernd interessant. Interessant und erlebnisreich, wie es das für die Kinder der Nachbarschaft immer schon war.
Das Treiben auf dem hinteren Bahnsteig fällt dabei nicht besonders auf. Es gibt keine Berichte über diese Reisenden mit dem gelben Stern.
Für die vielen Soltauer aber, die an den geschlossenen Schranken der Walsroder Straße warten müssen, bis ihnen die Züge im Schrittempo den Weg wieder freigeben, sind es einfach "Sonderzüge". Bedrohliche, beklemmende Gefühle, wie bei den Zügen mit den gefangenen "Russen", bleiben bei ihnen dennoch nicht zurück.


Viehwaggons

Erst mit den Zügen vor Ende des Krieges nehmen die Transporte wieder das bekannte schreckliche Bild an. Was ab Ende 1943 aus Richtung Norden - über die Heidebahn oder von Lüneburg - aus dem Konzentrationslager Neuengamme im Soltauer Reichsbahnhof eintrifft, nennt sich "Krankentransport". In Wirklichkeit sind die Menschen zusammengepfercht wie Fracht, abgefüllt in Güterwaggons.
Jetzt, unter all den unzähligen Flüchtlingstransporten und Truppenbewegungen, achten nur wenige Anwohner darauf, wenn Waggons auf den Gleisen außerhalb des Bahnhofs warten. Manch ein Soltauer in seinem Gemüsegarten am Stadtrand will nichts anderes erkennen als "Schafe", wo es doch Viehwaggons sind, kann nichts anderes erkennen, sieht Vieh und hört Tiergeblöke. Doch mit dem Verschwinden des Zuges schwindet auch der unbequeme Gedanke an eingepferchte Menschen. Weil das Geschehene nirgendwo hineinpasst, bleibt es für Jahre verdrängt. Weil niemand gern erinnert wird, spricht man nur selten darüber.

Schweigen

Soltauer Eisenbahner merken sich, was sie im heimischen Bahnhof oder an der Rampe in Bergen erlebt haben. Sie kennen das Elend der Transporte von Berufs wegen und ahnen das Ausmaß des Verbrechens, aber ihr Dienst befreit sie vom Fronteinsatz und gebietet Schweigen. Wem als normaler Reisender jedoch jemals ein "Gefangenenzug" begegnet ist, der erklärt sich jetzt vieles als "transportbedingt". Man vermutet, daß es z.B. im Emsland, wo es halt auch Lager gibt, ähnlich zugeht wie nahebei in Lührsbockel, wo "alles seine Ordnung hat". Dort im Arbeitslager, eine Viertelstunde mit dem Fahrrad in Richtung Wietzendorf, wird schon lange Torf gestochen, zunächst von Strafgefangenen und später durch Kriegsgefangene. Der Greuelpropaganda des Feindes, von der man ja gehört hat, ist also als "übertrieben" nicht zu glauben. Die jungen Soltauer Arbeitsdienstlerinnen, abgeordnet in die Bomlitzer Munitionsfabrik - schweigen erschrocken, wenn sie miterleben, wie die KZ-Frauen vom Lager am Sandberg durch ihre Aufseherinnen schikaniert werden. Kurzgeschorenes Haar - dieses mittelalterliche Zeichen der Schande - kennen sie aus ihrer Heimatstadt von Frauen, die im KZ gewesen waren. Weil sie Feindsender gehört oder sich mit Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen eingelassen hatten, waren sie für eine Weile weggekommen und jetzt sehr schweigsam - das wußte man und war klüger geworden. Auch ein Zeuge Jehovas war in Soltau abgeholt worden - und ebenso die Frau aus dem Viertel bei der Lutherkirche, die öffentlich zu oft geschimpft hatte. Daß mit den Kommunisten nicht lange gefackelt worden war, daran erinnerte man sich ebenfalls. Da war es besser, vieles nicht zu sehen und zu schweigen, wenn man nicht sicher war, mit wem man sprach.


Soltau Ende Februar

Spätestens nach den Bombenabwürfen, die Soltau Ende Februar '45 massiv treffen, können die offiziellen Stellen, Bürgermeister und Kreisleiter, die Transporte und die Plünderungen von entlaufenen Häftlingen nicht mehr übersehen oder totschweigen. Jagdbomber und andere Feindflugzeuge haben Bahnhöfe und Bahngleise, Wehrmachtsquartiere sowie Militär- und Munitionstransporte identifiziert und greifen sie wiederholt an. Aber noch immer rollen Transporte. Es werden Gleise zerstört und notdürftig geflickt, Loks bleiben auf der Strecke und kommen wieder unter Dampf. Britische Bomben detonieren am Stellwerk, und ein Munitionszug nahe dem Kleinbahnhof geht in die Luft. Dennoch - rund um den Eisenbahnknotenpunkt Soltau kommt kein Ende des Infernos in Sicht.


Auf der Strecke geblieben

Auch Häftlingstransporte werden angegriffen. Zwei von ihnen sind noch Anfang April von Bergen-Belsen über Soltau auf die Reise geschickt worden. Zwecks Austausch? Als Faustpfand? Man weiß es nicht. Der Irrsinn des Krieges kommt am Ende zu einem Höhepunkt. Während die langen KZ-Züge von Soltau nach Uelzen bzw. Lüneburg schleichen, wird die Heidebahn blockiert. Am elften April vormittags geht ein letztes Mal ein Zug vom Kleinbahnhof in Richtung KZ Belsen ab. Dann zerstört der Bombenhagel des größten Angriffs überhaupt die Gleise völlig und unterbricht die Strecke endgültig. Alle KZ-Bahntransporte haben kein Ziel mehr. Ihre Wachmannschaften haben vor Tieffliegern die Flucht ergriffen, viele kehren nicht zurück. Die Züge aus Neuengamme und aus den Dora-Lagern des Harzes bleiben rund um Soltau auf der Strecke.

Abel J. Herzberg (1893-1989) Anwalt in Amsterdam
Abel J. Herzberg (1893-1989)
Anwalt in Amsterdam
Auszüge aus dem Tagebuch

"... Als wir aus dem Lager abrückten, spielte das Orchester der Kapos Jazzmusik. Im Zug sitzen Typhuspatienten, Fleckfieberkranke und -verdächtige. Es sind keine Plätze mehr vorhanden.
11.April 1945
Die Nacht ist die Hölle. Die Aggressivität, schon früher nicht gering, nimmt zu. In unserem Wagen, in dem 48 Sitzplätze sind müssen 62 wohnen und schlafen. Gestern abend bekamen wir Margarine, ein Pfund für vier Personen als Ration für vier Tage. Das ist relativ viel, und wir sind nicht unzufrieden.
14. April 1945
Luftangriff auf Luftangriff. Wir fuhren von Soltau nach Uelzen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 3 km/st. Es gibt Mord und Totschlag. Hier ist alles Krieg, Krieg, Krieg. Die Bevölkerung, das heißt, die paar Menschen, denen wir begegnet sind, sind recht freundlich. Der Bauer wollte für Eier und Milch kein Geld annehmen. Davon habe er genügend, sagt er. ...""... Ein Teufel kam zu Gott und sagte: Bergen-Belsen ist eine herrliche Stelle - aber es ist noch viel schöner, wenn man Bergen-Belsen auf Räder setzt und damit durchs Land fährt. Das fahrende Elend. Die Nächte sind so, dass man glaubt, man werde sie nicht überstehen. Das fahrende Fleckfieberlazarett. Heute sechs Tote.
15. April 1945
Gestern abend kamen wir im schwerzerstörten Lüneburg an. Eine bange Nacht. Man hat uns auf dem Bahnhof abgestellt. Natürlich war Fliegeralarm. Wir haben Kohlrüben zum Frühstück gegessen. Kein Waschwasser. Dann weiter..." ¤


"KZ-ler" in der Stadt

Die meisten der Häftlinge in diesen letzten Transporten sind bedrohlich geschwächt. Sie haben viele Tage und Nächte, einige seit zwei Wochen, auf engstem Raum gehockt oder gelegen. Ihre Toten begleiten sie - in einer Ecke aufgestapelt oder in angehängten Waggons mitgeführt. Im Oeninger Wald, an der Heidebahn, flüchten die kräftigeren Häftlinge und machen sich auf in Richtung Soltau. Bereits in den Wochen zuvor hatte es das gegeben, daß einzelne sich während eines Halts von ihrem Transport entfernt hatten, z. B. wenn ihnen befohlen worden war, die Toten zu begraben. Wer entkommen war, der hatte versucht, Essbares zu finden und Wäsche von der Leine zu stehlen. Denn ohne Zivilkleidung, das wusste jeder "Gestreifte", war kein weiteres Fortkommen möglich. Das Erscheinen der ausgezehrten Gestalten hatte bei der Bevölkerung zumeist Angst oder gar Panik ausgelöst. Entwichene KZ-ler - dieser Begriff signalisierte vielfache Gefahr: Alle wussten von Seuchen, viele fürchteten um Leben und Eigentum und keiner konnte sagen, ob der Nachbar bei Hilfsbereitschaft schweigen würde. Einige Soltauer behalten ihren Mut und geben ihrem Herzen nach, wenn sie nicht gesehen werden. Draußen an der Weide verpflegen Anwohner heimlich Geflohene, die sich im Gebiet an der Bahn versteckt halten. Selbst die Frau des Staatsbeamten, von allen für 150%ig gehalten, stellt ihren Topf mit Essensresten in den Holzverschlag neben dem Haus. Daß sie den hungrigen Menschen nie richtig zu Gesicht bekommt, macht es ihr leichter, die Ängste auszuhalten. So verschweigt sie ihr Handeln ihrem Mann, der immer noch die Linie der Partei verficht.

Achtet auf entwichene KZ-Häftlinge


Lüneburg, 10. April 1945
Bei einem Angriff feindlicher Flieger auf einen Transport sind Konzentrationsgefangene geflohen. Die Häftlinge befinden sich im Gebiet der Lüneburger Heide. Auch die gesamte zivile Bevölkerung und besonders die Führer der nationalsozialistischen Gliederungen und politischen Leiter werden aufgefordert, sich an der Fahndung nach diesen KZ-Häftlingen zu beteiligen, die bekanntlich besonders zu Diebstahl, Raub, Plünderung usw. neigen. Sie sind zu stellen und festzunehmen. Für den Fall, dass die Konzentrationsgefangenen sich zur Wehr setzen sollten, sind sie unter allen Umständen unschädlich zu machen. Die Häftlinge sind im allgemeinen an der gestreiften Gefangenenkleidung zu erkennen, wobei aber hingewiesen wird, dass es etlichen gelungen sein könnte, sich andere Kleidung zu beschaffen. Jedenfalls ist anzunehmen, dass sie es bei Einbrüchen besonders auf Zivilkleidung abgesehen haben. ¤




Maßnahmen

Die Stadtoberen bekommen in den Aprilwochen drastisch mit, welche Unruhe die Entwichenen in der Bevölkerung verursachen, und stellen deshalb Verhaltensmaßregeln auf. Der Bürgermeister ist bei dem örtlichen Kriegskommandanten in der Garnisons-Reitschule vorstellig geworden und sucht um Schutz und Hilfe vor plündernden "KZ-lern" nach. Als zu seinem Bedauern die Garnison nur zwei Patrouillen für die Dauer eines Tages abstellt, nimmt die Jagd nach uraltem Vorbild ihren Lauf. Kleine Gruppen von Hitlerjungen und einige Mädchen gehen unter Anleitung von Erwachsenen auf die Suche.


Die Hatz

Um zu lernen, wie man mit der Panzerfaust umgeht, um auch einmal mitzumachen: in dieser Absicht war ein Teil des Jungvolks zum HJ-Heim nahe des Oeninger Waldes gekommen, der heutigen Jugendherberge. Manch einer hatte sich dafür von zu Hause wegstehlen müssen, weil sonst die Eltern den Wunsch nach einem Kriegsabenteuer mit einer Tracht Prügel gebremst hätten.
Nun aber haben sie einen besonderen Auftrag erhalten, pirschen durch die Gegend wie die Gestapo in ihren langen Mänteln durch die nahegelegenen Waldgebiete. Sie stöbern nach "KZ-Verbrechern" ebenso wie die Volkssturmmänner und die "Braunhemden" der Partei, die in Trupps zu zweit, zu dritt die Stadtviertel durchkämmen.
Eine Suche ist zur Hatz geworden, in deren Verlauf nicht nur gejagt und eingefangen, sondern auch geschossen wird.
Zwölf Menschen sind es, die in der Tetendorfer Gegend eingefangen und auf Hof Loh gesammelt werden, von wo aus man sie in die Nähe der Kieskuhle treibt. Tage später werden die aufgeblähten Leichen von einern kleinen Trupp Hitlerjungen in einer kleinen Vertiefung entdeckt und schnell wieder zugescharrt. Sie bleiben bis Juli unentdeckt. Der Führer dieser Schar nimmt den grausigen Fund zum Anlaß, noch schneller das Kampfgebiet zu verlassen und seine Jungen eilig nach Hause zu befehligen.
Andere aber sind "heiß", jagen auf eigene Faust und haben kein schlechtes Gewissen. Wer von den Häftlingen die Arme nicht hebt, sondern weiterläuft, stirbt auf der Flucht.


Erschießungen

Auch die beiden Leutnants mit ihren jugendlichen Helfern im Gebiet Sibirien sind vorangekommen. Hinter dem HJ-Heim, auf der Rückseite der Reitschule, ist eine ganze Gruppe "Gestreifter" zusammengetrieben worden. Einige wurden eingefangen von ängstlichen oder braven Bürgern, andere aufgestöbert von hasserfüllten Volksgenossen. Stolz haben die Pimpfe und Hitlerjungen die ermatteten Männer in ihren "Verbrecherkleidern" vom Bahnhof und anderswo zum Sammelpunkt geführt. Als Gruppe werden sie durch die Stadt getrieben, um sich beim Kampfkommandanten in der Reitschule ihr "Urteil" abzuholen. Danach zurück zum Jugendheim. Nach immer demselben Muster wählt man eine Kiesgrube. Im benachbarten Forst Sibirien gibt es davon einige. Eine ärgerliche Mutter aus der Nachbarschaft, die ihre zuschauenden Kinder voller Angst ins Haus zerrt, beschimpft die beiden jungen Männer in Leutnantsuniform, die die Unternehmung leiten. Die Männer nehmen Rücksicht und gehen zur Erschießung ein bisschen tiefer in den Wald.


Tote in "Sibirien"

Als der englische Secret Service im Mai diesem Massengrab auf die Spur kommt, ist der Schock durch die in Bergen-Belsen gesehenen Greuel noch frisch. Der SD-Mann Rosen im Landratsamt, der Bürgermeister Klapproth und zwei Polizeileutnants - sie alle werden festgenommen, zum Grab gefahren und vor die laufende Wochenschaukamera gezerrt. Man fordert sie auf, die Toten freizulegen, derweil die Kamera ihre wachsbleichen Gesichter aufzeichnet. Sie werden gefragt um eine Erklärung des Verbrechens, sagen, sie wüssten nichts, äußern Entsetzen angesichts der 25 Leichen. Eilig anderswo Verscharrte werden derweil von ihren Mördern im Stadtgebiet heimlich ausgegraben und weggeschafft. Dennoch. Überall findet man einzelne Tote. Offen liegen die Leichen der Entkräfteten im Oeninger Forst. Kinder entdecken Tote in Kuhbach und Aue. Einsargen und Beerdigen. Die Rede am Grab auf dem Friedhof der Johanniskirche hält der Superintendent.


Sammelgräber

Ein weiteres, drittes Massengrab wird Mitte Juli geöffnet - fünfzehn Tote in Ahlften. Die schreckliche Bilanz: Mindestens 28 einzelne Tote aus dem Soltauer Gebiet sind es dann, die mit den 52 Toten aus den drei Massengräbern gemeinsam auf dem Friedhof der St. Johanniskirche an der Bergstraße begraben liegen, als der katholische Pfarrer Voß wenige Jahre später den Grabstein weiht. 80 Tote, wie auf dem Stein geschrieben, bleiben es jedoch nur kurze Zeit. Bereits die früheste Totenliste für die Grabstätte notiert die Zahl 89. Und als man in späteren Jahren im Bereich der Straße beim Krankenhaus und auf dem Edeka-Gelände auf weitere Tote stößt, hat man damit sicher nicht die letzten Opfer gefunden.


Keine Sühne

Was geschieht mit den Soltauern, die mitgemacht haben bei der Jagd? Was ist mit den Schützen, die in ihren Revieren Menschen wie Tiere auf der Flucht erlegten? Was mit dem Polizisten, der eine dieser Kreaturen in einem Kellerabgang fand und die Pistole zog? Was wurde mit den Männern der Gestapo, die bei Oeningen die Scheunen durchstöberten? Was mit den Parteigrößen, die bei Einfrielingen und Ahlften den Wald durchkämmten wie bei einer Hasenjagd? Keine Sühne? Kein Verfahren? In vielen Fällen schweigt der Ort, als sich der Secret Service an die weitere Ausforschung macht und gerichtsverwertbare Aussagen über die Verbrechen benötigt. Nur eine Tötung führt zur Anklage, für die es im März 1948 eine erste Verhandlung gibt, die im Saal des "Hotel Stadt Bremen" stattfindet. Die Böhmezeitung hat ihre Lizenz noch nicht zurück, viele wollen selbst zuhören, der Saal ist brechend voll. Mehrere Männer aus HJ, Volkssturrn und Partei werden beschuldigt, doch einige wissen sich sehr bald zu entlasten. Weit draußen, gegenüber der Siedlung "Neues Rottland" an der Lüneburger Straße, hatte es einen einzelnen Toten gegeben. Jetzt streiten sich die drei verbleibenden Angeklagten um ihren Anteil an der Tat. Und die Richter? Die Akten zeigen ihren Zwiespalt. Gab es einen Befehl? Totschlag? Mord? Wer trägt die Schuld? Alle Verantwortlichkeit wird relativiert. Alle Vorgänge erscheinen mehr und mehr verschwommen, als ein Jahr später die Fortsetzung des Verfahrens alles noch einmal aufrollt.

Mauer des Schweigens
"... Meine Eltern und natürlich auch ich wohnten seit 1937 an der Winsener Straße, direkt an der Bahnüberführung. Meine Mutter war ab 1939 dienstverpflichtet bei der Deutschen Reichsbahn und als Schrankenwärterin an der Winsener Straße tätig. So war ich als Acht- bis Neunjähriger Augenzeuge dieser zahlreichen grausamen Transporte von KZ-Häftlingen. Als Kind habe ich seinerzeit die bis aufs Skelett abgemagerten Häftlinge nicht als Menschen angesehen und zahlreiche schlaflose Nächte verbracht. So grausam waren die armen Menschen anzusehen im Vergleich zu den wohlgenährten SS-Wachmannschaften. Ein vom Zug abgesprungener Häftling wurde in der Nähe unseres Hauses aufgegriffen. Zwei NS-Schergen aus Soltau erschienen und machten kurzen Prozeß. Der Häftling mußte in ca. 100 Meter Entfernung unmittelbar unserem Haus gegenüber sich selbst ein Loch schaufeln und wurde dann mit Kopfschuß getötet und nur unvollkommen mit Erde zugedeckt. Wir Kinder durften dieser Exekution in unmittelbarer Nähe beiwohnen und haben nach dem Abzug der NS-Schergen aus kindlicher Neugier nachgeprüft, ob dort wirklich ein Mensch vergraben war. ..."
"... Als sich die Situation nach der Kapitulation etwas beruhigt hatte, tauchten plötzlich die beiden ehemaligen Nazis des Standgerichtes bei meinem Vater auf und erkundigten sich genau, wo denn der erschossene Häftling begraben sei. Bei Nacht und Nebel wurde er dann ausgegraben und auf eine "Ruhestätte" gebracht. Das schlechte Gewissen hatte die Parteigenossen eingeholt. In den Jahren 1943-46 haben sich meines Wissens in Soltau und Umgebung viele solcher Vorfälle zugetragen, die aber nach 1945 mit einer sicher wohlbegründeten Mauer des Schweigens umgeben wurden. ..." ¤
Kurt Tödter

Dabeigewesen

Eine besinnungslose Hetzjagd hatte es gegeben - voller Angst und Hass. Und es waren junge Menschen dabeigewesen, mit deren Familien man jetzt zusammenlebte und morgen würde leben müssen. Weil man die Jüngeren der Täter schützen wollte, schwieg man deshalb auch über die Älteren?
Nach ein paar Jahren, als die Bevölkerung ihre Schützenfeste nicht mehr nur mit Holzgewehren, sondem wieder "richtig" feiern darf, kommen dann und wann verdrängte Wahrheiten zwischen alten Beteiligten ans Licht. Da streiten sie sich um ein Ehrenamt, da geht es um dieselbe Frau, oder einem wird ein Geschäft vermasselt.
Da gibt es Kränkungen, die zu übler Nachrede führen, und böse Zungen tuscheln. Dann hört man auch Böses über die alten Kumpane. Die "ganz Scharfen" seien gar nicht von hier, sondem aus der benachbarten Garnisonsstadt gekommen. Man selbst sei nicht so schlimm gewesen...
Heute sind die Pimpfe von damals im Alter der Großväter. Was ist, wenn man sie fragt? Sie haben lange geschwiegen, aber sie haben nicht vergessen, und einige können heute offener davon sprechen, dabeigewesen zu sein.


Vom Bahnhof auf die Jagd


Der Prozeß im Hotel Stadt Bremen und Auszüge aus der Urteilswiedergabe
Der jüngste Angeklagte im Soltauer Mordprozeß 1948 ist der Elektrolehrling F. In den Apriltagen 1945 ist er, damals noch sechzehnjährig, einer der Hitlerjungen, die in Soltau auf Häftlingsjagd geschickt werden. Am Vormittag des 11. April versieht er seinen Wachdienst am Bahnhof Soltau. Während des schweren Bombenangriffs flüchten einige der Häftlinge, die neben der Sanitätsbaracke festgehalten werden, erneut. Mit Pistolen bewaffnet machen sich F. und andere jugendliche Bewacher auf die Suche nach den Entflohenen. Am späten Nachmittag trifft F. bei seinem Elternhaus auf den Nachbarn, Arbeiter K. Dieser, 44 Jahre alt und SA-Sturmbannführer, hat einen entkräfteten KZ-Häftling bei einem Waldstück nahe der Lüneburger Straße in einer Furche entdeckt. Der Häftling wird wenig später erschossen.

Die Angeklagten leugnen
Dem Tatvorwurf - gemeinschaftlicher Mord - suchen K. und F. sowie der dritte Angeklagte, der achtzehnjährige Schuhmacher S., zu entgehen. Als es 1948 zur Verhandlung kommt, leugnen sie gleichermaßen:
"K. behauptet, dass nicht er, sondern F. den Häftling am 11.4.1945 erschossen habe und S., dass er und F. zwar in den Garten mit hineingegangen seien, sich aber vor der Erschiessung entfernt hätten, während F. den Vorfall auf einige Tage nach dem 11.4.1945 verlegt und in den Garten erst hineingegangen sein will, nachdem der Schuss bereits gefallen sei."
Später macht K. dem jungen F. den Vorwurf, dieser habe ihn zur Tat getrieben. F.s Hinweis auf die Existenz eines Befehls zum Erschießen habe ihn eingeschüchtert. Im weiteren Verfahren geht es dann u. a. um die Frage, ob es einen allgemeinen Erschießungsbefehl gab, wer ihn kannte und wer an seine Existenz glaubte.

F. kannte keinen Befehl
Das Gericht glaubt nicht, dass F. den K. zur Tat veranlaßt haben könnte. Zu F.s Gunsten glaubt es nicht, dass F. um einen allgemeinen Erschießungsbefehl wußte:"Es hat sich auch nichts dafür ergeben, dass dem Angeklagten F. überhaupt ein solcher allgemeiner Erschießungsbefehl bekannt war oder dass er etwa als besonders aktives Mitglied der Hitlerjugend tätig gewesen ist. Dagegen spricht auch nicht die Tatsache, dass F. am 11.4.1945 nachmittags einen festgenommenen ihm wieder entwichenen Häftling entsprechend der ihm gegebenen Anweisung nach mehrmaligem Anruf auf der Flucht erschossen hat."
F. (und auch S.) werden in der Revisionsverhandlung freigesprochen.

K. glaubte dem Befehl
Während dem F. die Unkenntnis eines Erschießungsbefehls zugutekommt, rechnet man dem K. dessen Glauben an die Existenz eines Schießbefehls mildernd an: "(Wie) aus den Bekundungen der der Hitlerjugend angehörenden Zeugen G. und C. hervorgeht, (ist) in Soltau von einem Befehl gesprochen worden, man solle die geflohenen und wieder ergriffenen Häftlinge aus dem Osten erschiessen, ohne dass geklärt werden konnte, wann und von wem ein solcher Befehl erlassen ist. Für das Bestehen eines solchen allgemeinen Hinweises oder Befehls kann die große Zahl der damals in Soltau vorgenommenen Erschießungen von Häftlingen sprechen. Unter diesen Umständen ist dem Angeklagten K. nicht zu widerlegen, dass auch er von einem solchen allgemeinen Erschießungsbefehl gehört und an dessen Bestehen geglaubt hat."

Das Urteil
Das Urteil, in der ersten Instanz lebenslänglich, lautet für K. am Schluß des letzten Verfahrens auf "5 Jahre Zuchthaus". Neben dem Hinweis auf die wirren Zeiten, die "Auflösung des deutschen Widerstands", berücksichtigt das Gericht als ein weiteres Argument: "Der Angeklagte K. ist auch einer der wenigen, die überführt werden konnten, während die für die Erschießung der Häftlinge Hauptverantwortlichen nicht ermittelt worden sind."
Die anderen Vorfälle im Stadtgebiet, wie die o.g."Erschießungen auf der Flucht", bleiben ungesühnt. ¤


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