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De Boer - einer von 269


Dies ist die Biographie von Andries de Boer. Einer von 269 KZ-Toten, die auf dem Wolterdinger Friedhof beerdigt sind. Erfragt bei Verwandten, Freunden und Historikern in Friesland.



Andries de Boer
Andries de Boer

Auf dem Friedhof in Wolterdingen künden drei große Holzkreuze von einem der letzten Massengräber des Hitlerfaschismus. Deportierte Konzentrationslagerhäftlinge - verhungert, entkräftet, erschlagen, kurz bevor britische Truppen den Ort erreichten. Hinter dem Grabstein ein Einzelgrab mit Inschrift: " Andries de Boer, geboren am 3. März 1888 in Gorredijk, gestorben am 13. April 1945 in Wolterdingen." Einer von 269 Toten.


Kindheit in Friesland

Andries de Boer wird am 3. März 1888 in dem kleinen Städtchen Gorredijk, im Herzen der Provinz Friesland, als zweiter Sohn der Familie geboren. Der Vater - Bäckermeister - verstirbt, als der Junge elf Jahre alt ist, an Krebs. Die Mutter führt das Geschäft weiter, kümmert sich nur wenig um die Kinder. Andries gilt als in sich gekehrt, ein Träumer, der viel in Büchern liest und mit Leidenschaft seine Tiere versorgt.
Mit ihnen möchte er auch später zu tun haben. Er will Tierarzt werden und bleibt in diesem Wunsch unbeirrbar. Schulen, Studium, Heirat und eigene Praxis in der Nachbarstadt. Nebenher Artikel für Fachzeitschriften und Zeitungen über Tierhaltung und -zucht. Tine, die Tochter, wird geboren. Ein gerader Lebenslauf.

In Südafrika

Für einen Holländer jener Zeit ist Südafrika das Land der Träume und der Zukunft. Für jemanden, der etwas von Tieren versteht, umso mehr. De Boer gibt die gutgehende Praxis auf und zieht mit der jungen Familie nach Südafrika, um im Regierungsauftrag zu arbeiten.
Doch die Wirklichkeit entspricht nicht seinen Erwartungen. Reisen von Farm zu Farm, oft wochenlange Abwesenheit von der Familie. Für die englischen Farmer bleibt der hochgewachsene Friese ein Mensch einer anderen Klasse.
De Boer kann sich nicht anfreunden mit der Arroganz von Herrenmenschen, ihre Brutalität gegenüber den Einheimischen ist ihm fremd. Das Heimweh wächst. Die Eheleute haben die Wolken der friesischen Landschaft, deren Lieder sie abends singen, nicht vergessen und kehren zurück.

In Noordwolde

Im südlichen Teil von Friesland wird ein Haus gekauft, das zugleich als Tierarztpraxis dient. Der Vater geht voll in seinem Beruf auf, seine Frau Rodolfje übernimmt die Führung des Haushaltes und des Alltags.
Tochter Tine und Nachbarsjunge Jan genießen die Freundschaft mit diesem eher schweigsamen Mann. Sie dürfen mit, wenn der Vater auf die Bauernhöfe fährt, und sie helfen zu Hause bei den Hühnern. Neue, ertragreichere und schönere Rassen will de Boer herausmendeln.
Die engen Familienbande, die Arbeit als Arzt und Hobbyzüchter genügen dem Vater. Einmal die Woche, das hat er schon in seiner Jugend gern getan, spielt er in einem Café einige Runden Billard. Laute Geselligkeit ist ihm dabei eher störend. Tennis mit Arbeitskollegen, je nach Jahreszeit Angeln oder Eiersuchen, wenn die Kiebitze legen, füllen den Feierabend aus.
Geblieben ist die Leidenschaft fürs Lesen, besonders in den Wintermonaten, die Zigarre oder Pfeife dabei in den Zeigefinger geklemmt. Selten kommen die Eltern hinaus, um Musik oder Theater zu genießen. Das Radio ist da eine willkommene Bereicherung, dient gleichermaßen der Erbauung und der Information.

Unter der Besatzung

Gesellschaftliche und politische Aktivitäten, wie sein Vater sie in einer sozialistischen Vereinigung gepflegt hatte, sind nicht seine Sache. Durch Lesen und Radio gut über das Zeitgeschehen informiert, bleibt Andries de Boer skeptisch gegenüber dem Reden und Tun der Kirchen- und Staatsmänner, hält nichts von den Rednern, die über die Lande ziehen und in Vorträgen und Predigten die Welt bewegen wollen.
Als die Deutschen 1940 die Niederlande besetzen, ist ihm klar, was es heißen kann, in die Fänge der Nazis zu geraten. Er weiß um die kriminelle Energie der Bewegung, hat vom Judenhass und den Morden gehört. Ängstlich um seine Familie besorgt und pessimistisch, was den Krieg angeht, bittet er die Tochter, nach ihrem Zahnarztstudium in die Nähe zu ziehen. Über fünfzig Jahre alt, das dunkelblonde Haar mit grauen Strähnen durchsetzt, macht er sich keine Illusionen über die Mächte, die nun auch in seiner Welt bestimmen.


"Onderduikers"

Voller Furcht ist die Mutter, als sie 1943 während eines Besuches bei ihrer Tochter miterlebt, dass Tine jüdische "Taucher" verborgen hält. Sie nimmt der Tochter das Versprechen ab, die jüdischen Flüchtlinge weiterzuleiten, und schweigt ihrem Ehemann gegenüber. Furcht und Sorge hätten dem Vater schlaflose Nächte bereitet.
Ein Jahr später, 1944. Tausende Niederländer sind aus Angst vor Verschleppung und Arbeitsdienst aufs Land geflohen und halten sich verborgen. Jetzt nehmen auch die de Boers zwei "Onderduikers" (Untertaucher) in ihrem Haus auf. dass es sich bei ihnen um entfernte Verwandtschaft handelt, erleichtert dem Vater den Schritt. Er weiß, dass sein Verhalten für die eigene Familie üblicherweise nicht lebensbedrohlich ist.
Unterstützt werden die "Untertaucher" durch illegale Gruppen, die für Lebensmittel und -marken, falsche Ausweise und Verstecke sorgen. In Noordwolde sind es Arbeiter, Ärzte, Angestellte und Kaufleute, die einen geheimen Ring organisiert haben. De Boer ist nicht dabei. Einige, die ihn kennen, vermuten, er habe schweigend geduldet, habe weggesehen, wenn sein Fahrzeug des Nachts verschwand und für heimliche Transporte benutzt wurde. Andere jedoch schließen sein Mitwissen aus.

Widerstand und Verrat

Jahresende 1944. Weiter wird heimlich Radio gehört. Seit Ende September sind Engländer und Amerikaner an der Reichsgrenze. Aber das Landeuntemehmen in Arnheim ist gescheitert, und die Hoffnung auf baldige Befreiung durch Alliierte sinkt. Was bleibt, ist die Furcht vor den deutschen Besatzern.
Die fünfte Kriegsweihnacht in den Niederlanden ist vorüber, und Nacht für Nacht überfliegen die Bomber Friesland, durchschneidet das Dröhnen und Sirren kämpfender Flugzeuge die Stille der weiten Landschaft.
Der Widerstand in der Bevölkerung ist gewachsen. Eine Einsatzgruppe des SS-Sicherheitsdienstes (SD) hat sich in der nächsten Stadt festgesetzt und versucht, die Widerstandsringe zu zerschlagen. Ein Mann, den der SD bei einer Straftat erwischt, wird gepresst und redet. Er nennt Namen, immer mehr Namen, will seinen Kopf retten. Nennt Namen von Ärzten, de Boers Name ist dabei. Der SD wird einen großen Schlag landen.

Verhaftung und Folter

29. Dezember 1944. Zehn Uhr am Vormittag ist es, als die Schergen des Sicherheitsdienstes sich um das Haus des Tierarztes am Oostersteek postieren. Der Motorenlärm und sein plötzliches Verstummen haben die Eheleute und die Untertaucher aufgeschreckt. Jan, der Nachbarsohn, und Gerke, der Junge von gegenüber, die auf der Straße gespielt haben, eilen zu ihren Häusern. De Boer und die drei Untertaucher werden gestellt und aus dem Haus getrieben.
De Boer schreit. "Schießt mich doch tot!" Zwei Bewacher stellen sich ihnen - das Gewehr im Anschlag - auf der Straße gegenüber. Da entdeckt einer der Bewacher den neugierigen jungen Gerke, der, halbwegs zu Hause, im Wassergraben Schutz gesucht hat. Der Mann zielt, schießt und trifft. De Boer wird befohlen, die Halswunde zu verarzten. Dann folgt sein Abtransport. Ende einer erfolgreichen Razzia.
Mehr als zwei dutzendmal hat es in der vorausgegangenen Nacht die gleichen Szenen der Verhaftung in Noordwolde und Umgebung gegeben. Das Crackstate-Gefängnis in Herrenveen wird in den nächsten Wochen zur schrecklichsten Station im Leben aller Verhafteten. Verhöre, Marterungen an heißen Ofenplatten, Schläge, Verhöre, Geständnisse. Versuche der Selbsttötung.
Auch de Boer. Trotzig bleibt er dabei, mit dem Widerstandsring nichts zu tun zu haben. So ist es nachzulesen in der Geschichte des Widerstands in Friesland. Erfolterte Geständnisse. De Boer widerruft. "Wir wissen, dass Du nichts getan hast", sagt Steylaert, SS-Mann. "Warum lasst ihr mich dann nicht frei?" fragt ihn de Boer. "Alle die Dummen lassen wir nach Hause gehen, nur die Intellektuellen halten wir als deutschfeindlich fest", gibt ihm der SS-Mann zur Antwort.


Abtransport

Mitte Februar. De Boers Frau und seine Tochter haben alles versucht. SS-Mann Kronberger weist ihnen mit Hilfe seiner Doggen den Weg aus der Tür. Schreieder, SD-Chef, der die Untersuchung leitet, lässt sich verleugnen. Keine Besuche. Nur Winken, hoch zu dem vergitterten Fenster der Zelle, von dem aus die Gefangenen die andere Straßenseite sehen können. Dann auch das nicht mehr.
Nachfragen, aber keine Antworten. Die Milch für den magenkranken Vater wird noch kommentarlos entgegengenommen. Doch längst sind die Gefangenen abtransportiert worden.
Nach Zwolle. Dann weiter nach Amersfoort. Es gehe ihm gut, schreibt der Vater. Das Schlimmste sei ausgestanden. Er hoffe, und er rede viel mit zwei Lehrern aus Drenthe, das mache ihm Mut. Die Marterungen seien vorbei. Lagerleben.
De Boer schreibt eine zweite heimliche Nachricht. Er werde nach Deutschland verbracht, morgen am 16. März. Doch ebenso wie der erste Brief werden auch diese Zeilen die Familie erst Monate später erreichen.


Tod in Deutschland


Grabstein von Andries de Boer auf dem Wolterdinger Friedhof
Grabstein von Andries de Boer auf
dem Wolterdinger Friedhof

Mitte März. Der letzte Transport aus dem immer noch besetzten Land.
De Boer einer von insgesamt drei Millionen, die mit der Bahn in den Tod transportiert werden. Einer von einhundertfünfzigtausend Niederländern, die nach Deutschland verschleppt worden sind. Der Zug fährt nach Hamburg, Konzentrationslager Neuengamme. Der Krieg und die Front kommen näher. Immer mehr Lager werden evakuiert. Krankentransporte nach Bergen-Belsen werden zusammengestellt, Außenlager geräumt, Akten vernichtet.
Die zweite Woche im April. Die Strecke nach Belsen ist versperrt. Gleise in Soltau sind zerstört. Zwei Jahre Transporte von Westerbork nach Auschwitz und Sobibor. Transporte nach Bergen-Belsen. Die rollenden KZs durch die Lüneburger Heide werden gestoppt. Ende. Britische Truppen übemehmen das Lager in Belsen, stoßen an Soltau vorbei nach Hamburg vor.
Gräber werden entdeckt. Handeloh, Wintermoor, Schneverdingen, Wolterdingen, Ahlften, Soltau, Tetendorf. Beerdigungen und Wochenschau-Aufnahmen.
Diejenigen Deutschen, die in Kriegsgefangenenlagern zusehen müssen, erkennen ihre Heimat nicht, können zunächst nicht glauben, was zu Hause geschah. Diejenigen in der Heimat, die schaufeln müssen, die Särge tragen und sehen, was ist: Was empfinden sie? Die Fotos zeigen starre Gesichter und verlegenes Lächeln.
Geblieben sind die Kreuze. Tine Valken, de Boers Tochter, behält neben dem Schmerz die Erinnerung an den Vater. Nur zu Gedenktagen Besuche am Grab in Wolterdingen. Nicht sehr oft. Denn mit jedem alten Gesicht sind auch die Täter wieder da ...


Zur Geschichte:

Mit dem Foto vom Wolterdinger Grabstein in der Hand fand ich in Friesland das richtige Noordwolde, nahe bei de Boers Geburtsort Gorredijk. Papierwarenhändler Witmus erinnerte sich nicht nur sofort an den großen, weißhaarigen Herrn aus seinen Kindertagen, sondern er hängte sich sofort ans Telefon. Johannes Mulders, der seine deutschsprechende Schwester zu Besuch hatte, lud mich sofort zum Tee. In seinem Haus, rechts neben "Rosebottel", dem Wohnhaus des Tierarztes, erfuhr ich das erste von de Boers verhängnisvoller Geschichte. Sohn Jan ergänzte später brieflich. Frau Valken (Tine, die Tochter) und Hermann Valken - pensioniert und Großeltern - lernte ich am übernächsten Tag in Beetsterzwaag kennen; sie hatten gerade Kinderbesuch gehabt. Ich nutzte die Zeit für die schöne Gegend; Regina Bisschof zeigte mir ein wenig von Drachten, und ich fuhr nach Groningen und Leuwarden. Das, was ich bereits über die Besatzungszeit in Holland gelesen hatte (und mein eigener Vater war auch dabeigewesen!), habe ich im Verzet Museum aufgefrischt und erweitert um das Thema Widerstand. Der Wärter der Ausstellung, Herr C. Rietsma, nannte mir nicht nur das Standardwerk P. Wijbengas, Bezettningstied in Friesland, Leuwarden 1978, sondern entpuppte sich selber als versierter Historiker. Sein Buch über Frieslands Nazizeit, "Tekens (Zeichen) an de Weg, Tekens an de Wand", dort 1980 erschienen, hatte ich dann schon angelesen, als Tine Valken mir die Lebensgeschichte ihrer Familie erzählte und vom Weg ihres Vaters. Hermann V., immer ganz Ohr, griff dann ein, wenn uns das rechte Wort nicht zufiel. Und er gab seiner Frau Beistand, wenn die Erinnerung allzu schwer wurde.
Auf der Autobahn nach Deutschland zurück war mir klar, dass man immer auch sich selbst erfährt: Hatten die Valkens mich doch nicht gehen lassen, ohne nach "Berufsverbot" und anderen deutschen Dingen zu fragen! Und mir war eingefallen, dass ich meine Mutter einmal nach dem kurzen Leben von Onkel Heinz fragen sollte, der aus dem Krieg nicht zurückgekommen war.
Zurück in Ahlften, blieb die Aufgabe, die Zeitgeschichte nachzulesen. Ein Besuch in Neuengamme half mir dabei. Die alte Gräberliste lag beim Landkreis in Fallingbostel, alte Fotos fand ich in London. Und der Friedhof blieb ja ganz nah.
Reinhard Otto


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