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Schneverdinger erinnern sich


Zeitzeugen - 40 Jahre nach Kriegsende
Sieben Bürger, vom Reichsbahnbediensteten bis zur Heimhelferin, berichten von ihren Beobachtungen über KZ-Züge in Schneverdingen. Die Stimmen: Entsetzt, offen und ehrlich, verharmlosend und reinwaschend?


Zeuge S.

Ende März und Anfang April wurde noch versucht, das KZ-Gefangenenlager Bergen-Belsen von den Häftlingen zu räumen. Sie wurden bis zu 60 Mann in gedeckte Güterwagen gepresst, die zu voll ausgelasteten Güterzügen zusammengestellt und mit z. T. unbekanntem Ziel über Soltau in Richtung Hamburg auf den Weg gebracht wurden. Vermutlich sollten die Häftlinge noch im Lager Neuengamme untergebracht werden.
Wegen Überfüllung dieses Lagers wurden die nach dorthin geleiteten Züge zurückgesandt. Da Bergen-Belsen sich zunächst weigerte, diese Häftlinge wieder aufzunehmen, wurden die Züge mit den Menschenfrachten je einer auf den Bahnhöfen Wintermoor, Handeloh, Schneverdingen und Wolterdingen abgestellt.
Der Bahnhof Schneverdingen heute
Der Bahnhof Schneverdingen heute

Jedem dieser Züge war ein Transportleiter und ein aus alten SS-Männern bestehendes Begleitkommando beigegeben. Für die Ordnung in den geschlossenen Wagen hatte ein "Kapo" zu sorgen. Diese behandelten ihre Kameraden (Mitgefangenen) in einer tierischen Art und Weise. Am Tage und auch nachts hörte man das Aufschreien und Brüllen gequälter Häftlinge.
Um diesen Leuten das Los etwas zu erleichtern, habe ich den derzeitigen Molkereiverwalter gebeten, Magermilch den Leuten zur Verfügung zu stellen, was dann auch geschah. Auch ließ ich in der Betriebsküche der Bahnmeisterei große Mengen Kaffee kochen und stellte Trinkwasser zur Verfügung. Doch wurde von keinem der Bahnbediensteten bemerkt, dass an diesem Abend von dem Begleitkommando 62 vor Hunger und Kälte gestorbene Häftlinge in der Heide östlich des hiesigen Bahnhofs eingegraben worden sind. Das Massengrab war mit Heideplaggen wieder belegt und somit nicht als solches zu erkennen.
Ebenso wurde auch auf den Bahnhöfen Wolterdingen, Wintermoor und Handeloh mit den Verstorbenen, etwa in gleicher Zahl wie in Schneverdingen, verfahren...
Die Züge wurden dann aber doch wieder nach Bergen-Belsen zurückgeleitet. Erst einige Tage nach dem Einmarsch wurden diese Gräber von den Engländern gefunden. Eine größere Anzahl PG (Parteigenossen) wurde einige Tage später zur Grabstätte befohlen, um die dort Begrabenen herauszubuddeln.
Die hiesigen Tischlereien und Zimmereien hatten den Auftrag bekommen, die fehlenden Särge (kastenförmig) herzustellen. Nach der Einsargung wurden die Särge zum Friedhof gefahren. Die Mitglieder der hiesigen Frauenschaft mussten den Transport begleiten und die Hügel mit einem Kranz oder Strauß versehen. In ähnlicher Weise wurde auch auf den anderen Bahnhöfen verfahren. ¤

Zeugin W.

Irgendwann im Frühjahr 1945 - ich war etwa 11 Jahre alt - habe ich zufällig mit einigen anderen Kindern mitbekommen, dass auf dem Schneverdinger Bahnhof ein Zug mit KZ-Häftlingen anhielt. Nachdem wir uns neugierig dem Bahnhofsgelände auf der Straße, die am Bahnhof entlangführt, genähert hatten, konnten wir besser erkennen, was vor sich ging.
Der ganze Zug bestand aus teilweise offenen, teilweise geschlossenen Güterwaggons. Die Häftlinge, die wir zu Gesicht bekamen, befanden sich in einem unbeschreiblichen, elenden Zustand: Es waren buchstäblich lebende Skelette, bei denen nicht zu erkennen war, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Teilweise liefen sie ohne Bekleidung herum.
Einige hatten sich vom Zug, der auf dem Hauptgleis stand, entfernt und versuchten, Nahrung zu erbetteln. Sie wurden aber von den Wachtposten, die das ganze Bahnhofsgelände umstanden, daran gehindert. Einer der Häftlinge wurde deswegen sogar vor unseren Augen erschossen. Man wollte uns davon abhalten, dieses ganze schreckliche Szenario mitzuerleben. So wurden wir von den Wachtposten unter Drohungen vom Bahnhofsbereich vertrieben.
An mehr als an diese Bruchstücke, die mich tief beeindruckten, kann ich mich leider nicht erinnern.

Zeugin K.

In den Jahren 1944/45 war ich als Helferin in dem KLV-Lager (Kinderlandverschickungsheim) in der Heberer Straße tätig. Im Herbst 1944 oder im Frühjahr 1945 habe ich es zweimal erlebt, dass Züge mit KZ-Häftlingen auf dem Schneverdinger Bahnhof anhielten.
Ein KZ-Zug auf dem Schneverdinger Bahnhof 1945
Ein KZ-Zug auf dem Schneverdinger Bahnhof 1945

Die abgemagerten und krank aussehenden Häftlinge kamen einige Male bis ans Heim und klopften hier an die Fenster, um z. B. einen Kanten Brot zu erbetteln. Da die Verpflegung in dem Heim rationiert war, schnitten wir einfach die Brote in dünnere Scheiben, um so auch den Häftlingen etwas abgeben zu können. Der Heimleiter bemerkte dies jedoch und drohte uns an, dass man uns die Köpfe kahlscheren würde, falls wir weiterhin den KZ-Insassen etwas abgeben sollten.
Wiederholt kam es vor, dass Häftlinge, die Rübenmieten in der Nähe des Bahnhofs bei der Suche nach Verpflegung aufgewühlt hatten, von den die Züge begleitenden SS-Wachmannschaften mit Gewehrkolben zusammengeschlagen wurden. Die Schreie vom Bahnhof konnte man bis zum Heim hören.

Zeugin N.

Ich war schon in den letzten Kriegsjahren bei der Stadt Schneverdingen in der Verwaltung tätig und entsinne mich, dass in den letzten Kriegswochen mehrere KZ-Züge durch Schneverdingen kamen. Sie wurden immer wieder hin und her transportiert. Das war im ganzen Ort bekannt, jeder hat das gewusst, die haben so schrecklich gejammert und geklagt. Ich selbst bin nicht am Zug gewesen, ich habe mich nicht getraut.
Wir, der stellvertretende Bürgermeister und ich, waren ganz aufgewühlt von dem Leid der Leute. Frau F. und der stellvertretende Bürgermeister haben dann versucht, den Häftlingen, so gut es ging, zu helfen. Frau F. lieferte damals Lebensmittel zum Krankenhaus Reinsehlen. Wie das organisiert wurde, das weiß ich nicht, doch die haben des öfteren etwas für die Häftlinge herangeschafft, und wenn es nur Wurzeln waren.
Ich entsinne mich, wenn auch nur ungenau, dass eines Tages - zu dem Zeitpunkt, als in Wintermoor die Explosion am KZ-Zug war - vermutlich ein Zivilist einen ausländischen KZ-Häftling in das Gemeindebüro brachte. Von dort aus wurde ein Polizist benachrichtigt, der den Häftling abholte. Es war eine richtige Elendsgestalt im Häftlingsanzug. Wir gaben ihm von unserem Frühstücksbrot und bedeuteten ihm, dass er es schnell aufessen möge, bevor der Polizist komme.

Zeugin F.

Nachkriegs-Testat: Bescheinigung für Brotlieferungen
Nachkriegs-Testat: Bescheinigung für Brotlieferungen

An die KZ-Züge kann ich mich auch erinnern. Es muß Anfang 1945 gewesen sein, man konnte immer dieses grauenvolle Wehklagen hören.
Eines Tages kam ein Wachposten dieser Züge in unseren Laden in die Bahnhofstraße; er hatte getrunken und weinte. Er war ganz außer sich über das Leid der KZ-Häftlinge in den Zügen. Auch hatte er wohl Angst, da er wusste, was passieren würde, falls er und der Zug den Engländern in die Hände fallen sollten. Dieser SS-Mann wollte unbedingt etwas für die KZ-Häftlinge tun, und ich konnte ihm später eine große Menge Wurzeln liefern, die auf unserem Hof lagerten.
Gedeckt wurde diese Lieferung der für die Schneverdinger Bevölkerung bestimmten Wurzeln vom stellvertretenden Bürgermeister. Er hat das mit den KZ-Zügen sehr ernst genommen, der hat sich aufgerieben dabei, in dieser Notzeit etwas für die Häftlinge aufzutreiben. Es wurde Brot von der Firma Vorwerk geliefert und Milch von der Molkerei. Die Lebensmittel wurden dann mit einern großen Karren vom Zugpersonal abgeholt. Außerdem habe ich einmal einen KZ-Häftling im Gemeindebüro gesehen. Die Beerdigung der KZ-Toten selbst habe ich nicht beobachtet. Den Trauerzug jedoch sah ich in der Bahnhofstraße. Er bewegte sich nach meiner Erinnerung vom Rathaus (heute Volksbankgebäude, d.V.) zum neuen Friedhof, wo ja auch die Beerdigung stattfand. Der Trauerzug musste von den Parteigrößen und der NS-Frauenschaft gebildet werden; die Frauen hatten Blumen bei sich.

Zeuge N.

Als 18-jähriger Frontsoldat war ich nach einer Verletzung zur Genesung ca. 10 bis 14 Tage zu Hause in Schneverdingen. Ich hatte einen Stellungsbefehl für den 12. April '45. So muß es also vorher gewesen sein, als ich in Schneverdingen KZ-Häftlinge gesehen habe. Es war eine Häftlingsgruppe, vielleicht 5 bis 6 Mann in Sträflingsanzügen, die, unter Bewachung vom Bahnhof kommend, zur Bäckerei Vorwerk ging, um Brot zu holen. Sie hatten den Plattformwagen von der Reichsbahn für den Transport des Brotes dabei.

Zeuge R.

Ich war als 15-jähriger Stift 1945 auf dem Schneverdinger Bahnhof tätig. Ende März sagte der Stationsvorsteher eines Morgens, es komme ein KZ-Zug aus Richtung Hamburg.
Ich hatte bis dahin nichts von KZs gewußt, abgesehen von einer Äußerung, die der Schlachter machte, in etwa: "Ich kann kein Gramm mehr geben, sonst komme ich ins KZ."
Als der Zug gegen neun oder zehn Uhr einlief, es waren normale 3. Klasse-Waggons mit Plattformen an beiden Seiten, da lagen auf der einen Plattform schon die ersten Toten.
Die ganze Zeit über hörte man das Stöhnen und Wehklagen dieser Menschen.
Als ich später den einzigen Wasserhahn, der sich auf dem Bahnsteig befand, abdrehen musste, ertönte ein unerträglich lautes und drohendes Geklapper, welches die durstenden Häftlinge mit ihren Blechnäpfen machten. Das Abdrehen des Wasserhahns wurde mit der Seuchengefahr begründet. Die Häftlinge holten sich unter Bewachung mit einem Gepäckhandwagen Molke aus der Molkerei, die sich auf dem Gelände des heutigen Kaufhauses Globus (Bahnhofstraße, Ecke Lerchenstraße) befand.
In den darauffolgenden Wochen kamen solche Züge immer häufiger, meistens waren es einfache Viehwaggons oder sogar offene Kohlewagen. Diese Züge standen z. T. mehrere Tage auf dem Abstellgleis, dem Gleis 2.
Die Menschen waren häufig so geschwächt, dass sie ihre Waggons nicht mehr verlassen konnten. Doch gab es unter ihnen auch richtig Dicke, die sogar viele Goldringe an den Händen trugen.
Die Bewachung des Zuges war unterschiedlich hart. Einmal sah ich, wie eine Artisten-Gruppe des KZ-Zuges eine richtige Vorstellung für die russischen Kriegsgefangenen gab, die zum Bahnhof gehörten. Ich beobachtete außerdem, dass einmal ungefähr fünf bis sieben KZ-Häftlinge, die in Wintermoor entlaufen waren, auf der Rampe am Bahnhof in Schneverdingen von der SS erschossen wurden.
Das Massengrab mit den KZ-Toten befand sich direkt gegenüber dem Bahnhof Schneverdingen, auf dem mit jungen Kiefern bewachsenen Streifen, zwischen den Gleisanlagen und dem Heidkampsweg. Die Toten stammten nicht von einem Zug, sondern waren sozusagen in den letzten Kriegswochen angesammelt. Der leere Zug, der sich auf dem Gleis 1 des Bahnhofs befand, als die Engländer einmarschierten, war ein Militärzug. Es erscheint mir als äußerst unwahrscheinlich, dass dieser Zug ein KZ-Zug war.
Das Massengrab musste nach dem Einmarsch vorwiegend von den Bahnbeamten und PG's geöffnet werden. So waren auch Bahnmeister daran beteiligt. Alle örtlichen Betriebe, die Holz verarbeiteten, mussten die Särge und Holzkreuze liefern. Die Öffnung des Massengrabes und die Beerdigung auf dem Friedhof habe ich nicht selbst beobachtet.

Die Beerdigung der 62 Männer
des Konzentrationslagers am 27.4.1945


Aus einem Schreiben von Johanna Renner an die Herausgeber 1990:... "Vater musste seinerzeit diese Ansprache ins Englische übersetzen und dem Kommandanten vorlegen. Sie wurde in der jetzt vorliegenden Form genehmigt. Vater durfte sie auch nur ablesen, so dass man davon ausgehen kann, dass auch kein anderes Wort gesprochen worden ist. Man muß sich sicher die ganze beklemmende Situation damals Anfang der Besatzungszeit vorstellen, in die die Aufdeckung dieser unvorstellbaren Untaten fiel. In Vaters Tagebuchaufzeichnungen ist noch viel davon zu spüren, wie sehr ihn die Tatsache, bei dieser Ansprache rechts und links von zwei Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett flankiert zu sein, zusätzlich belastete ...


Ansprache des Volksmissionars Wilhelm Schmidt
bei der Beerdigung am 27.4.1945


... "Was hier geschah, ist Unrecht vor Gott und den Menschen. Es macht uns nicht nur traurig, es beschämt uns. Einzelne Männer unseres Volkes haben hier eine Schuld auf sich geladen, und wir alle müssen sie tragen. Wir bekennen mit Daniel: Wir müssen uns schämen! Wir flehen für die, die schuldig wurden, für uns und für die, die der Tod hinwegnahm: Herr erbarm dich über uns!

Noch mehr betrübt uns. Wir senken hier die Särge ein. Wir wissen, dass jeder Sarg die sterbliche Hülle eines Menschen birgt, aber wir wissen nicht, wer es ist, der im Sarg liegt. Namenlos, unbekannt müssen wir sie hier zur Ruhe betten. Dennoch ist da gewiss eine Mutter, ein Vater, eine Gattin, ein Kind, die um sie trauern. Wir können ihnen nicht Kunde geben, wo der Vater, Bruder, Gatte, Sohn seine letzte Ruhestätte fand. Auch das beschämt uns ...



Blick in Richtung auf das ehemalige Massengrab
Grabstein auf dem
Schneverdinger Friedhof
Grabstein auf dem Schneverdinger Friedhof
Blick in Richtung auf das
ehemalige Massengrab


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