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Das "Leben" im Zug


In ihren Tagebuchaufzeichnungen schildert Renata Laqueur sehr eindrucksvoll das Leben und Sterben im Zug.




Renata Laqueur
18. Februar 1943 Erste Verhaftung als holländische Jüdin, 23 Jahre alt, KZ Vught, danach Durchgangslager Westerbork
November 1943 Zweite Verhaftung, zusammen mit ihrem Mann, Durchgangslager  Westerbork
16. März 1944 Ankunft in Bergen-Belsen, dort Tagebuchnotizen bis Dezember 1944
10. April 1945 Evakuierung mit dem Zug, Fahrt quer durch Norddeutschland
22. April 1945 Befreiung aus KZ-Zug durch russische Truppen bei Tröbitz (Sachsen)
24. April 1945 Stichwortartige Ergänzung der Tagebuch-Aufzeichnungen



Fahrtbeginn in Bergen-Belsen


"( ... ) Irgendwann kamen Evakuierungsgerüchte auf. Mös war dagewesen, hatte gefragt, ob das Lager "auf Transport gehen" könne. Die Ärzte hatten Typhus, etwas später Flecktyphus festgestellt. Das Lager blieb. Der Krieg schien in die Endphase zu treten, und wir warteten ...
Langsam, viel zu langsam näherten sich die englischen und amerikanischen Truppen. Laut J.P.A. ¤, zuverlässig wie immer, sollten ihre Spitzen kurz vor Hannover stehen. Im Lager trafen politische Gefangene aus Hannover ein, die offensichtlich den Alliierten nicht in die Hände fallen durften. Zu Fuß hatte man diese halbverhungerten, verschmutzten Leute über zig Kilometer hierhergetrieben. Dutzende waren unterwegs gestorben oder nach einem Schwächeanfall erschossen worden. Auch bei uns nahm die Zahl der Toten ständig zu, das Krematorium konnte die Menschen nicht mehr bewältigen, und so schichtete man die Leichen zu Haufen übereinander. Wie Brote in einem Magazin lagen sie da gestapelt, einmal mit dem Kopf nach vom, dann wieder mit den Füßen.
Das Wetter ist unfreundlich, regnerisch. Über dem Lager hängt der widerliche Geruch von Kohlsuppe, Fäulnis und Verwesung, und hin und wieder trägt der Wind den Brandgeruch des Krematoriums herüber.
Es ist Sonntag nach Ostern, ein Sonntag in Bergen-Belsen. Die Unruhe im Lager nimmt zu, was hat die SS mit uns vor? Wird der Kommandant das Lager kampflos übergeben? Werden wir die Übergabe überleben? Hat die SS noch Zeit, hier einen Massenmord zu begehen? Oder werden sie das Lager zum Schluß doch noch 'evakuieren'?, aber dann wohin mit diesen verhungerten, halbtoten Menschen? Auf all diese Fragen gab es plötzlich eine Antwort, als man zwei Züge, jeder mit ungefähr 45 Waggons und 2500 Personen, auf die Reise schickte. Es war eine "Reise mit unbekanntem Ziel ( ... )"
Der erste Zug verließ die Station in Belsen am Sonntag, dem 8. April 1945, der zweite (das war der unsrige) ging in der Dienstagnacht, den 10. April, gegen 24 Uhr. ( ... )


Im Krankenwaggon


Der Waggon, in dem ich mich befand, schien ein umgebauter Güterwaggon zu sein. Die Fenster ließen sich ein wenig öffnen, und er besaß eine Toilette. Siebenundfünfzig Menschen hatte man in diesem Wagen zusammengepfercht, der ein sogenannter "Krankenwagen" war. Hier lagen Kranke mit Flecktyphus, Pleuritis (Rippenfellentzündung), offenen, eiternden Wunden und Tbc. Alle mehr oder weniger entstellt durch Ödeme, alle völlig verlaust. Dreißig von uns konnten mit angezogenen Knien auf dem Boden liegen, die restlichen siebenundzwanzig mußten sitzen.
Es wurden vierzehn endlose Tage.( ... )
Die Deutschen hatten, da sie mit einer Reisedauer von vier Tagen rechneten (Theresienstadt?), uns an Proviant ein halbes Brot, 125g Margarine, etwas rote Bete und Steckrüben gegeben. Paul hatte seine gesamte Ration am ersten Abend aufgegegessen, als er, unfähig sich zu bewegen, auf dem Boden des Viehwagens lag. Anderthalb Tage später sah ich ihn, ein Stück Rübe in der Hand haltend, inmitten seiner Exkremente und denen anderer Menschen liegend, wieder. Gänzlich verschmutzt, ungewaschen, verlaust. Niemand, glaube ich, kann verstehen, was es für eine Frau bedeutet, ihren Mann so verhungern und verfaulen zu sehen, die Schmerzen, die er leidet, und nicht mehr für ihn tun zu können, als das wenige Essen, das sie selbst besitzt, mit ihm zu teilen. Ich versuchte, mich zu wehren, ihm Kraft zu spenden durch gutes Zureden, ihn mit dem wenigen Wasser, über das wir verfügten, zu waschen und ihn zu entlausen (Flecktyphusgefahr). ( ... )
Im Zug gab es kein Licht. Wir fuhren oder standen stundenlang irgendwo in Deutschland, oftmals schien die Front keine 15 km entfernt zu sein. Licht war lebensgefährlich. So stolperten in der Nacht die Menschen, die noch die Kraft dazu besaßen, in völliger Dunkelheit über Paul und mich zu der Toilette. Nicht einmal 75 cm breit war die Fläche, über die wir verfügten. Paul hatte ich meine Decke gegeben, er war so abgemagert, dass die Haut an verschiedenen Stellen durchgescheuert war. Diese Wunden begannen jetzt zu eitern. Die Nächte zehrten an den Nerven. Wenn alle versuchten, sich auszustrecken, waren Paul und ich gezwungen, auf der Seite zu liegen, und war ich gerade in einen traumlosen, bleiernen Schlaf gefallen, weckte mich sein Ächzen und Stöhnen. Der Arzt, der sich zufällig in unserem Waggon befand, gab Paul noch zwei, drei Tage, sollte es nicht eine unerwartete Hilfe geben.
Ich lag neben ihm, verzweifelt, nichts für ihn tun zu können. Schließlich war ich zu kraftlos, um Paul aufzuhelfen, damit er in die Toilette gehen könnte. Er befürchtete hinzufallen, sich zu verletzen und zu sterben. So blieben wir liegen, inmitten des Schmutzes und Unrates, der sich zunehmend im Waggon verbreitete.


In der Heide


Es war die vierte Nacht im Zuge. Von der Stunde an, bis über die nächsten zwei Monate, war Paul nicht mehr in der Lage, allein zur Toilette zu gehen. ( ... )
Ich saß eingezwängt zwischen anderen, und die Nacht war dunkel und drohend. Weit hinauf am Himmel leuchtete roter Feuerschein, es mußten die Folgen von Flugzeugbombardements sein. ( ... )
Irgendwann hörten wir, dass Hannover gebrannt habe, und man wollte wissen, dass die Stadt durch englische Truppen eingenommen worden sei. Wir erfuhren, dass wir in der Nähe von Soltau in der Lüneburger Heide standen, das bedeutete, wir hatten uns nicht mehr als 40 km von unserem Lager entfernt.
Es war noch sehr früh, und es war ein herrlicher Morgen. Ich sah die Sonne den Frühnebel auflösen, konnte mich nicht satt sehen daran und war doch zu schwach, um mich längere Zeit am Fenster halten zu können.
Ein paar Mutige kletterten aus den Waggons, um nach Wasser zu suchen. Wir hatten nichts davon in den Wagen, konnten nicht trinken, konnten uns nicht waschen. Vorsichtig kletterten die Menschen über die Gleise, niemand wußte, wie die Wachen reagieren würden. Aber es geschah nichts - die von mir befürchtete Schießerei blieb aus.( ... )
Draußen glich das Menschengewimmmel inzwischen einem Zigeunerlager. Die Kräftigsten hatten Kleinholz zusammengetragen und auf dem Bahnkörper zahlreiche Feuer entzündet, worauf sie begannen, in den roten Lagerschüsseln aus Belsen rote Bete und Steckrüben in Wasser zu kochen. Mir wurde übel, doch ich hatte fürchterlichen Hunger. Kochen konnte ich nicht, roh durfte ich wegen der Diarrhö nichts essen.( ... )
"Einsteigen!" Ich schrak auf. Die Menschen hasteten zum Zug, die Posten schimpften und brüllten, eilig wurden die Feuer ausgetreten, viele Suppen in dem Durcheinander verschüttet. Im Stellwerk sah ich deutsche Uniformen. Warum mußten wir so unvermittelt einsteigen, was hatte das zu bedeuten? Ein Ruck, der Zug fuhr an. Hinter dem Haus flackerte ein Feuer, deutsche Soldaten verbrannten Papiere. Die "Anglo-Amerikaner" mußten in der Nähe sein. Mittags hörten wir, dass Soltau eine Viertelstunde, nachdem wir weitergefahren waren, eingenommen worden war. So sollte das noch einige Zeit weitergehen. In jeder Stadt, die wir erreichten, war Alarmzustand, jeder Ort, an dem wir manchmal für Minuten, oft stundenlang hielten, war kurz danach in den Händen der Alliierten.


Eine Delikatesse



Hatten fast alle von uns vermutet, die Fahrt ginge nach Theresienstadt, so stand die Richtung, in der wir uns bewegten, im krassen Gegensatz dazu: wir fuhren nordwärts. Rumpelten durch dichte Wälder, weite Wiesenlandschaften, offene Heideflächen.
Vorbei ging es an stattlichen Bauernhöfen, ausgebrannten Fabriken, eintönigen Arbeitersiedlungen. Wir fuhren durch den Frühling. Sanft schaukelnde, gefleckte Birken, stattliche dunkelgrüne Kiefern glitten vorbei, in den Gärten waren die vollen Knospen des Flieders zu erkennen. Irgendwann stoppte der Zug, häufig suchte er Deckung in einem dichten Wald, was viele ausnutzten, um trockenes Holz zusammenzutragen.
Nach drei Tagen gab es zur allgemeinen Überraschung pro Person ein Kilo rohe Kartoffeln, die der Zugführer in einem nahen Dorf gekauft hatte. Die Kartoffeln waren eine kulinarische Kostbarkeit. Seit einem Jahr hatte ich keine Kartoffeln gegessen. Die seltenen Stückchen in der Rübenwassersuppe will ich nicht rechnen. Paul und ich aßen jeder fünf Stück, es war ein Genuß, sie, nachdem sie gekocht waren, auf der Zunge zu schmecken. Zwei Tage lang hatte ich gar nichts zu essen bekommen, und als ich zwei Kartoffeln genußvoll zerkaut hatte, war ich satt. Nachdem ich drei weitere heruntergezwungen hatte, war mir übel.
Paul lag nach wie vor auf meiner Decke vor der Toilettentür, er machte alles liegend, litt starke Schmerzen durch den harten Untergrund, auf den ich ihn gebettet hatte, schlief sehr viel oder sah stumpf vor sich hin. Außer den fünf Kartoffeln erhielten wir vorerst nichts weiter zu essen. Ich mag nicht mehr über den Hunger berichten.


Der Angriff


Ein akutes Problem während der ganzen Fahrt war die Versorgung mit Wasser. Jede Pumpe, jeder Wasserhahn wurde bei einem Halt sofort von Hunderten von Leuten gestürmt, und manchmal stand ich bereits eine halbe Stunde in der Warteschlange, wenn plötzlich das Signal zur Weiterfahrt ertönte.
Irgendwo, in der Nähe Hamburgs, geschah das an einem Nachmittag. Der Zug zuckelte langsam und mächtig rauchend durch eine weite Heidegegend. Weit konnten wir nicht von Bremen entfernt sein, viel weniger noch von Hamburg. In einiger Entfernung sahen wir auf der Straße deutsches Militär, Autos, Panzer und Geschütze. Auch diese Kolonne stoppte, und die Soldaten liefen wie die Wiesel von der Straße und warfen sich in die Gräben oder drückten sich eng an die Böschung. Ich hörte Flugzeuggebrumm, dann Geknatter, und im Nu war um uns die Hölle los. Die englischen Maschinen beschossen die Kolonne, und schon wurde von dort das Feuer erwidert. ( ... )
Im Zug hatte es vier Tote und mehr als zwanzig Verletzte gegeben. Nun befahl der Zugführer, den ganzen Transport mit allen auffindbaren weißen Laken und Tüchem zu bespannen, und so "friedlich beflaggt" setzten wir unsere Reise durch Deutschland fort, bis wir den Russen in die Hände fielen." ¤

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