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Warum alles aufwühlen?


Karfreitag in einem Lokal - angemessener: In einer Kneipe in Groningen


Später Nachmittag, an einem langen Tisch eine Gruppe von Deutschen, alle nach 1945 geboren, die anderen Gäste Einheimische gleichen Alters, außerdem, wie sich später herausstellt, ein Engländer, ein Ire und ein Israeli. Ohne erkennbaren Anlaß beginnen die Einheimischen ein deutsches Lied zu singen: "Die Wacht am Rhein". Eine offensichtliche Provokation, die Stimmung ist gespannt...


Szenenwechsel


Gedenkstein in Kornwerderzand, Niederlande
Gedenkstein in Kornwerderzand, Niederlande
Zu Ehren von
Kapitein C.F.J. Boers erschossen in Oranienburg 3.Mai 1942
1STELuitenant Q.J. HAM erschossen in Mauthausen im Februar 1944
Ein anderer Ort, eine andere Zeit, ein anderes Ereignis: die Entdeckung von Massengräbern an der Bahnlinie in Wolterdingen, beschrieben im Rückblick von dem damaligen Dorfschullehrer Lüttjemann. Seine Dorfchronik enthält einige Passagen, die eindringlich dokumentieren, wie Zeitgenossen mit diesen Ereignissen umgingen - auffällig dabei die Mischung von Mitgefühl, Angst und Abscheu.
In dieser Chronik heißt es an einer Stelle: "In Soltau war aber der Bahnhof durch feindliche Flieger zerstört worden, so dass die Züge auf den Stationen davor stehenblieben, in Wolterdingen allein 5 Züge mit diesen armen, verhungerten Menschen, die in Viehwagen untergebracht waren. Vor Hunger rissen sie aus. Von mitleidigen Menschen wurden sie unterstützt, aber von Hunden in ihren Verstecken aufgestöbert und wieder zurückgebracht nach dem Bahnhof. Diese armen Menschen waren ein Bild des Jammers, zum Teil lagen sie gänzlich unbekleidet im Viehwagen. Wie weit sie schuldig waren, entzieht sich meiner Kenntnis. dass es alles Verbrecher waren, kann ich mir nicht denken. Viele unter ihnen waren denunziert, andere politisch und ein kleiner Teil schuldig. Jedenfalls war das Los dieser armen Menschen wenig beneidenswert." ¤
Der letzte Satz läßt die Unfähigkeit spüren, sich mit diesen Geschehnissen auseinanderzusetzen. Der Chronist hat Probleme damit, diese "armen Menschen", deren Los er "wenig beneidenswert" findet, als Opfer der NS-Mordmaschinerie zu sehen; einige sind für ihn "Verbrecher", also "schuldig". Indem er sich zumindest partiell weiterhin der Sicht- und Denkweise der Nationalsozialisten bedient, kann er teilweise sein schlechtes Gewissen entsorgen. Hier klingt - wie auch im folgenden Mitgefühl an:
"Ich war eines Mittags auf dem Bahnhof und brachte ihnen (den KZ-Häftlingen, d.V.) eine Schüssel und einen großen Karton mit gekochten Kartoffeln. Wie Raubtiere griffen sie, vom Hunger gequält, nach den Kartoffeln. Völlig nackte Menschen lagen am Boden, vom Hunger entstellt. Es war völlig menschenunwürdig, wie diese KZIer behandelt wurden. Erst als ich energisch wurde, ließen mich die Mannschaften heran an den Zug, um meine Kartoffeln verteilen zu können."
In der weiteren Darstellung dieser Episode ist dann von Mitgefühl für die Opfer nichts mehr zu spüren; denn jetzt geht es um die eigene Haut: "Überglücklich waren wir in Wolterdingen, als bekannt wurde, dass der letzte Zug mit KZlern den Bahnhof verlassen hatte, bevor die Engländer einrückten. Sicherlich hätte der Feind die Ortschaft auf längere Zeit räumen lassen und die KZIer in unsere Wohnungen gesetzt, obwohl wir an der ganzen Sache gänzlich unbeteiligt waren. Mir persönlich war es unbekannt, dass es KZs gab." Der Chronist denkt an sich selbst: Für ihn wäre es eine Strafe für die gänzlich unbeteiligten Dörfler geworden, wenn man die befreiten KZ-Häftlinge in ihre Wohnungen gesetzt hätte. Er übersieht, dass dies die einzige Möglichkeit gewesen wäre, einigen dieser völlig entkräfteten Menschen das Leben zu retten, nämlich dadurch, dass sie an Ort und Stelle verpflegt und behandelt worden wären. Überdies bekommt das Mitgefühl vor diesem Hintergrund, dem Nahen der Engländer, den schalen Beigeschmack einer taktischen Handlung: Wenn der  "Feind", interessant die Beibehaltung dieser Bezeichnung, vor der Tür steht, kann es nicht schaden, einigen Opfern des NS-Terrors geholfen zu haben.

Zweite Schuld


KZ Westerbork, weiblicher Häftling
KZ Westerbork, weiblicher Häftling
Völlig unvermittelt folgt dann die Standardentschuldigung vieler Zeitgenossen: "Mir persönlich war es unbekannt, dass es KZs gab." Dieser Satz wirkt hier fast wie ein bedingter Reflex, damit werden alle Fragen zur eigenen Verantwortlichkeit beiseite geschoben und verdrängt. Was bleibt, ist die Erinnerung an die Angst davor, dass die "raubtiergleichen" KZ-Häftlinge vielleicht "in unsere Wohnungen gesetzt" worden wären. Unversehens befindet Lüttjemann sich selbst in der Rolle des unschuldigen (Fast-) Opfers!
Seine Ausführungen sind symptomatisch für eine Entwicklung, die schon kurz nach dem Krieg einsetzte. Ralph Giordano hat sie in seinem gleichnamigen Buch die "zweite Schuld" genannt: nämlich "die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945." ¤ Er sieht einen Zusammenhang zwischen "einem kollektiven Macht- und Eroberungswahn" der Deutschen, "dem eine kollektive Gedächtnisstörung, ein gigantischer Erinnerungsschwund, folgte." ¤ "Niemand war dabei und keiner hat's gewußt" ¤ - so läßt sich die Haltung vieler Zeitgenossen treffend zusammenfassen.
Auch eine Generation später verlief die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit kaum anders, oberstes Ziel blieb, möglichst alle Erinnerungen zu verhindern. So hörten wir nach dem Krieg Geborenen vor 25 oder 30 Jahren bei unseren Fragen häufig den Satz: "Ihr habt das alles nicht erlebt, deshalb könnt ihr das gar nicht beurteilen und auch nicht verstehen." Nicht selten war dieser Satz wohl auch die Reaktion auf die anklagende Art unserer Fragen, wurden diejenigen, die das "Tausendjährige Reich" erlebt hatten, von uns in die Rolle der Schuldigen gedrängt, maßten wir uns die Rolle des Anklägers oder gar des Richters an. Heute werden Gespräche über diese Zeit oft nach kurzer Zeit beendet mit der Bemerkung: "Andauernd wird man mit Dingen aus der Nazizeit konfrontiert, ich habe jetzt endlich genug davon."

Verdrängen, verleugnen, vergessen


Gedenkenstein in Petten, Holland
Gedenkenstein in Petten, Holland
1943 wurde Petten von den Deutschen abgerissen.
1947 wurde das vierte Petten gegründet
Für diese Haltung mag es berechtigte und zu respektierende Gründe geben. Allerdings liegt hier der Verdacht nahe, dass diejenigen, für die es jetzt endlich genug sein soll, identisch sind mit denen, die vor 25 oder 30 Jahren alle unsere Fragen abwiesen mit dem Argument, wir könnten das nicht beurteilen, weil wir nicht dabeigewesen seien.
Eine derartige Argumentation läuft letztlich darauf hinaus, das Dabeigewesensein als besonderes Verdienst darzustellen. Nähme man diesen Standpunkt ernst, wäre Geschichtsbetrachtung nur noch möglich als Auseinandersetzung mit Ereignissen, die der Betrachter als Zeitgenosse selbst miterlebt hat. Der Stoff der Geschichtswissenschaft reduzierte sich dann auf die jeweilige Gegenwart und die unmittelbare Vergangenheit. Über die Unsinnigkeit einer derartigen Position braucht man wohl kein Wort zu verlieren.
Worum es geht, ist offensichtlich: Die so argumentieren, versuchen sich jeder kritischen Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus zu entziehen. Und kommt nicht gerade auch von ihnen die eingangs gestellte Frage, warum man sich heute noch mit diesem Thema beschäftigen sollte?
Für diese spezielle Gruppe von Personen gibt es nur eine Antwort: Wir beschäftigen uns heute noch mit diesem Thema, weil Ihr euch einer Auseinandersetzung entzogen habt, zugespitzt formuliert: weil Ihr verhindert habt, dass rechtzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stattfand. Unser Geschichtsunterricht endete häufig 1933. Man braucht in diesem Zusammenhang nur auf den Zeitpunkt hinzuweisen, wann beispielsweise mit dem Auschwitz-Prozeß begonnen wurde, oder darauf, welche Karrieren ehemalige NSDAP-Mitglieder bzw. SS-Leute nach dem Krieg hier bei uns machen konnten.
Diejenigen, die sich nicht von der "Unfähigkeit zu trauern" ¤ befreit haben, und die Ewiggestrigen sie verdienen keine weitere Antwort.
Es möge nun doch endlich genug sein damit - diese Haltung findet man auch bei jüngeren Leuten, und deshalb


Szenenwechsel


Callantsoog, Niederlande<br>"...sie fielen als Schlachtopfer des Naziterrors"
Callantsoog, Niederlande
"...sie fielen als Schlachtopfer des Naziterrors"
... Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen: GRONINGEN, KARFREITAG, ... die Stimmung ist gespannt ...
Es gelingt dennoch, miteinander ins Gespräch zu kommen, die Gruppen lösen sich auf, vermischen sich. In den folgenden Gesprächen werden die Gründe für das ablehnende, ja geradezu feindselige Verhalten deutlich:
Die Deutschen hätten nichts dazugelernt; verblendet durch Wohlstand und wirtschaftlichen Erfolg, träten sie auf, als hätten sie den Krieg gewonnen. Gerade an solchen Feiertagen müsse man immer wieder ganze Busladungen selbstgefälliger und selbstzufriedener Wohlstandsdeutscher ertragen, die sich überall lärmend breitmachten, alles teurer und schlechter als zu Hause fänden und denen alles nicht sauber und ordentlich genug sei. Und keiner komme auf die Idee, dass für sie, die Menschen in unseren Nachbarländern, diese bornierte Selbstgefälligkeit, diese lautstarke Gemütlichkeit und vor allem dies deutsche Sauberkeits- und Ordnungsdenken Erinnerungen mit sich brächten an die Zeit des Nationalsozialismus. Da seien viele ihrer Landsleute genau jenen Verhaltensweisen zum Opfer gefallen, die die Deutschen heutzutage offensichtlich immer noch für ihre ureigensten Tugenden hielten. Die holländische Krankenschwester, der israelische Zimmermann, der Deutschlehrer, der vorher nie deutsch mit Deutschen gesprochen hatte: Sie alle sahen dabei kaum Unterschiede im Verhalten bei älteren und jüngeren Deutschen, Solche Vorwürfe sollten uns zu denken geben. Und kann man von uns nicht erwarten, dass wir als Deutsche im Ausland taktvoller und empfindsamer für die besonderen Belastungen auftreten, die sich aus der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Europa ergeben? Ein solches Taktgefühl werden diejenigen zeigen, die sich daran erinnern, was gewesen ist. Und ist das nicht überhaupt das einzige, was wir für die Opfer noch tun können: sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen? Ist die Erinnerung nicht auch deshalb notwendig, damit dergleichen nicht noch einmal geschieht?
"Wer sich nicht erinnert, muß die Geschichte nochmals durchleben." ¤


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